Ausgabe 6 - 1/2023 - Bernhard Malkmus

Ulrike Draesner oder Die Kunst des Nüsseknackens

Vor wenigen Jahren fanden wir ein winziges Päckchen aus Norwegen im Briefkasten. Der Absender: Dr. Fiona Danks, Sverdrupstasjonen, Norsk Polarinstitutt, Ny Ålesund, Svalbard. Eine kanadische Studienfreundin, die etliche Sommer lang eine Forschergruppe auf Spitzbergen leitete. Unsere beiden Kinder waren natürlich besonders aufgeregt, als sie das eng verschnürte Geheimnis lüfteten: In einem zu einer Röhre gerollten Brief lag ein zierliches Löffelchen. Wenige Monate zuvor war uns ein ähnlicher Löffel aus Rentiergeweih, auch ein Geschenk Fionas, zu Bruch gegangen. Die Kinder waren untröstlich. Und jetzt schickte sie uns einen neuen, unzerbrechlich wirkenden Löffel – aus dem Zahn eines Spitzbergen-Walrosses!

Fiona beschäftigt sich seit ihrer Doktorarbeit mit den Wanderbewegungen von Rentieren in Lappland und Sibirien – und hat während ihrer Sommer in Ny Ålesund auch
viel über die Unruhe des touristischen Menschen gelernt. Jedenfalls hat sie darüber immer wieder in ihren lebendigen Briefen geschrieben. Ich vermute, sie hat diese Briefe in
denselben roten Postkasten geworfen, den nördlichsten der Welt, durch den auch Ulrike Draesner ihre Lebenszeichen nach Süden schickte. So steht es jedenfalls in ihrem Spitzbergen-Text Radio Silence. »Eisklug«, heißt es dort, würden die menschlichen Ausdrucksformen werden in einer Landschaft, »die keine ist (zu zahm, das Wort), in einem Gefäß (Himmel, Wasser, Luft) – das mich enthält.« »Eisklug« müssten wir alle werden, steht zwischen den Zeilen.

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