Ausgabe 3 - 1/2021 - Sergej Rickenbacher

Sonne und Glas, Untergang und RettungZur Genealogie des Narrativs ‚Treibhaus Erde‘

Was mit ‚Treibhauseffekt‘ bezeichnet wird, weiß jeder ökologisch bewusste Mensch: Er steht für die gegenwärtige Erwärmung des globalen Klimas durch anthropogene Emission von Gasen. Weniger bekannt dürfte sein, dass der ‚Treibhauseffekt‘ keine Analogie ist, mit der identische oder zumindest ähnliche kalorische Prozesse in einem Treibhaus und in der Erdatmosphäre verglichen werden, wie es das Kompositum suggeriert. Ein Gewächshaus heizt sich auf, weil die Mischung von warmer und kalter Luft verhindert wird. Dagegen stellt sich die Erwärmung des globalen Klimas wegen der hohen Absorptionsfähigkeit von Kohlendioxid, Wasserdampf, Schwefel oder bestimmten Spurengasen ein, die für die Speicherung beziehungsweise die Reflexion von Wärmestrahlen sorgen. Zwischen der Wärmespeicherung im Treibhaus und in der Atmosphäre existiert in physikalischer Hinsicht keine Ähnlichkeit und der ‚Treibhauseffekt‘ entspricht somit einer für den Laien kaum erkennbaren Metapher für die Erwärmung des globalen Klimas.

Bekanntlich verleihen Metaphern Sachverhalten mehr Plastizität, gehen dem wissenschaftlichen Begriffssystem voraus oder füllen Lücken, die es offen lässt. Allerdings kommunizieren sie auch immer mehr, als sie bezeichnen, ja strukturieren und präformieren in bestimmten Fällen sogar unser Denken und Handeln. Auch der ‚Treibhauseffekt‘ besitzt semantische Überschüsse, die über das bezeichnete Phänomen hinausgehen. Zunächst impliziert die Metapher, dass die Erde mit einem Treibhaus gleichgesetzt werden kann, was sie als Raum darstellt, der sowohl technisch als auch natürlich ist. Da Gewächs- und Glashäuser neben ihrer physikalischen und botanischen Eigenschaften unwillkürlich auch mit den ökonomischen, sozialen und ästhetischen Entwicklungen im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert assoziiert werden, verbindet der ‚Treibhauseffekt‘ die globale Erwärmung zudem auch mit dem technischen Entwicklung, der Industrialisierung und dem Kapitalismus, die heute meistens als Ursachen für den sprunghaften Anstieg der klimarelevanten Gasen in der Erdatmosphäre genannt werden.

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