Ausgabe 1 - 2018 - Nicole C. Karafyllis

Samenbank und WeltkollektionÜber die dritte Natur der agrarischen Biofakte

1. Samenbanken

Objekte, Zwecke, Infrastrukturen. Nein, eine Samenbank ist nicht das, was man im Deutschen gemeinhin dafür hält: eine Spermatozoenbank für die künstliche Befruchtung menschlicher Eizellen. »Same« (griechisch : sperma) wird hier nur metaphorisch verwendet, denn ein Spermatozoon ist für sich nicht lebensfähig, aus ihm wird nichts. Ein wirklicher Same lebt bereits als ein Ganzes, wenn auch nur latent. Er ist ein Körper, ohne einen zu haben, und schützt mit seiner Samenhülle den keimfähigen Embryo. Ein Same ist eine potenzielle Pflanze, die Samen bildet, aus der erneut Pflanzen entstehen, die Samen bilden usw.

1. Samenbanken: Objekte, Zwecke, Infrastrukturen

Nein, eine Samenbank ist nicht das, was man im Deutschen gemeinhin dafür hält : eine Spermatozoenbank für die künstliche Befruchtung menschlicher Eizellen. »Same« (griechisch : sperma) wird hier nur metaphorisch verwendet, denn ein Spermatozoon ist für sich nicht lebensfähig, aus ihm wird nichts. Ein wirklicher Same lebt bereits als ein Ganzes, wenn auch nur latent. Er ist ein Körper, ohne einen zu haben, und schützt mit seiner Samenhülle den keimfähigen Embryo. Ein Same ist eine potenzielle Pflanze, die Samen bildet, aus der erneut Pflanzen entstehen, die Samen bilden usw. Demnach ist eine Samenbank eine Lebendsammlung gehorteter Pflanzensamen. Laut der Welternährungsorganisation FAO gibt es weltweit bereits über 1 750 Samenbanken. Die europaweit größte an Lebendbestand ist die Genbank des deutschen Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben, Sachsen-Anhalt. Bevor sie zur bundeszentralen Genbank der BRD wurde, war sie die nationale Kulturpflanzenbank der DDR. Die Samen alter Sorten von Gerste, Kartoffel und Sonnenblume sowie von zahlreichen weiteren Getreiden, Ölsaaten und Gemüsen werden dort vorgehalten. Der Universalsingular »Kartoffel« umfasst beispielsweise etwa 100 Spezies und davon wiederum zahlreiche Sorten. Jene gesammelten Sorten sind nicht mehr marktrelevant, sie sind aus dem kommerziellen Anbau verschwunden und würden aussterben, würde man sie in der Samenbank nicht bewusst am Leben erhalten.
Aber auch strahleninduzierte Mutanten aus Experimenten des Gründungsdirektors Hans Stubbe (1902–1989) mit der Zierpflanze Großes Löwenmaul (Antirrhinum majus) werden am IPK noch aufbewahrt. Sie sind wissenschaftshistorische Zeugnisse der frühen Strahlengenetik und belegen, dass nationale Samenbanken von Beginn an Orte der Forschung und Technisierung waren. Auch heute geht ihr Charakter über den einer Sammlung weit hinaus. Samenbanken sind Knotenpunkte in vielfältigen Infrastrukturen: von Landwirtschaft und Züchtung, von universitärer Forschung, von bioinformatischen Digitalisierungsstrategien (»Biologische Ressourcenzentren«), von Kleingartenvereinen und individuellen Hobby- Gärtnern, und von Botanischen Gärten und Naturschutzorganisationen. Selbst eifrige Christen, die sich einen Bibelgarten mit der Atmosphäre des alten Israels anlegen wollen, werden von den großen Samenbanken mit Samentütchen versorgt.
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2. Die Weltkollektion: Der Same als Anfang und Ursprung der Agrikultur

Die DDR nannte ihre nationale Samenbank an der Vorläuferinstitution des IPK nicht »Genbank«, sondern treffender »Weltsortiment«, Russland die seinige »Weltkollektion«, angelegt vom Pflanzengenetiker Nikolai I. Vavilov (1887–1943) im Botanischen Garten St. Petersburg schon um 1920, die erste moderne Samenbank überhaupt.
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3. Samen erzählen Geschichten

Die gelagerten Samen sind aber nicht nur Reservoire für die Züchtung und damit zukunftsorientierte genetic stocks, sondern auch Geschichtszeichen. Als museale Objekte ohne Museum erzählen sie von der Geschichte der Agrikultur mit ihrer einstigen Vielfalt.
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4. Die dritte Natur ist kalt und dunkel

Entsprechend ist es das wichtigste technische Ziel von Samenbankern, die Keimfähigkeit der Samen über lange Zeiträume zu erhalten, mindestens Jahrzehnte, wenn nicht gar, mittels Kryokonservierung, also dem Einfrieren von Gewebeproben bei ultratiefen Temperaturen in Flüssigstickstoff, über Jahrhunderte.
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5. Samen als lebender Bestand und Arsenal

Die Samenbanken bilden kein Vorratslager, sondern sie horten lebenden Bestand : einen Bestand von Biofakten.
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6. Zum Abschluss : Dosengelächter

Samen waren immer kulturelle Objekte der Hoffnung wie auch des Widerstands; als mobile Objekte wurden sie getauscht und gehandelt und bildeten damit agrikulturelle Infrastrukturen.
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