Ausgabe 6 - 1/2023 - Susanne Stephan

Die Schrift an der Bande

Die Schrift ist immer noch da, an der Kreuzung, an der ich zu meinem Elternhaus abbiege, war immer schon dort am Weg von der Grundschule und später vom Schulbus nach Haus. Eine Werbebande auf den Resten einer betonierten Mauer, hellgelb grundiert, an den Seiten rot eingefasst, darauf von Hand gemalte, solide schwarze Druckbuchstaben: EMIL BÜRCK, und zarter, schräg laufend: feste u. flüssige Brennstoffe.

Von den Dorfbewohnern kaum mehr wahrgenommen, vom Sohn Emil Bürcks, der längst keinen Brennstoffhandel mehr betreibt, auch nicht überstrichen, entfaltet diese alte Geschäftswerbung in meinen Augen auf einmal wieder eine Aura, einen Appeal. Tritt für mich, die ich vom Zug kommend mit Riesenschritten, so scheint es mir, auf den alten Kindheitswegen dem Elternhaus zustrebe, um es auszuräumen, wieder hervor als Hintergrund einer Epoche: als Erinnerung an einen Aufbruch mit dieser in den fünfziger Jahren beliebten, als kühn und neu empfundenen, nicht-komplementären, frohgemuten Kombination von Gelb und Rot. Das war Toast Hawaii, käsegelb überbackene Ananas mit einer Cocktailkirsche garniert, das war die große weite Welt, mit der man jetzt in Frieden verbunden, auf den geerbten Porzellantellern, das waren blassgelbe Kacheln mit roten Fugen in den neuen, von einer Zentralheizung angenehm gewärmten Badezimmern. Verheißung einer besseren Zeit, noch kohlegestützt, aber bereits angekommen auf dem lichtgelben Grund der Wirtschaftswunderjahre. Einer neuen, aufgehellten Epoche nach der düsteren des Krieges, die man hinter sich gelassen hatte wie die alten, engen Häuser im Ortskern, die Zwangsnähe am Ofen, die in langen Wintern bebrüteten kleingeistigen Gedanken über die Welt.

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